„Gibt die Welt dir eine Chance, gib nur Acht auf die Balance…“

Die Kardosch-Sänger, Wenn der Bobby und die Lisa


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István Kardos

„Vollendete Harmonie“

Mitte 1932 gründete der Ungar István Kardos in Berlin ein Gesangsensemble. Er lebte seit einigen Jahren mit seiner Frau, einer Opernsängerin, in Deutschland und hatte an verschiedenen Theatern als Kapellmeister gearbeitet, bevor er Ende 1929 die Leitung des bekannten Abel-Quartetts übernahm. Die Abels, eine komplett ungarische Gruppe, hatten noch vor den Comedian Harmonists im August 1928 begonnen, in Berlin Platten im Stil der amerikanischen Revelers aufzunehmen. Ihr Gründer, Namensgeber und musikalischer Leiter, Pál Ábel, verließ die Abels im Herbst 1929, und István Kardos übernahm die Aufgabe als Pianist und Arrangeur des Quartetts, das unter seiner Leitung seine erfolgreiche Karriere fortsetzen konnte, nun zumeist unter dem Namen „Five Songs“.

Trotz andauernder Erfolge verließ er die Gruppe im Mai 1932 und stellte sein eigenes Gesangsensemble zusammen. Er hatte sicherlich den Ehrgeiz, seine eigenen Vorstellungen mit einer Gruppe, die seinen Namen und seine musikalische Handschrift trug, zu verwirklichen, und auch finanzielle Überlegungen könnten eine Rolle gespielt haben: als Geschäftsführer und Manager seines eigenen Ensembles waren seine Verdienstmöglichkeiten größer als in seiner Position bei den Five Songs, wo er nur als musikalischer Leiter agierte. Möglicherweise war ihm auch klar, dass die Zeit der Five Songs in Berlin aufgrund der politischen Entwicklungen ihrem Ende zuging, denn alle Mitglieder der Gruppe waren Juden. Vielleicht hatten die Sänger die Zeichen der Zeit erkannt und bereits über eine mögliche Rückkehr nach Ungarn gesprochen. Nach der eingedeutschten Version seines Namens, Stephan Kardosch, nannte er seine neue Gruppe schlicht: Die Kardosch-Sänger.

Nach einigen Umbesetzungen in der Frühphase bestand die Gruppe spätestens ab September 1932 aus dem Bass Paul von Nyiri, dem ersten Tenor Zeno Coste, dem Bariton Fritz Angermann und einem namentlich nicht bekannten zweiten Tenor.

Paul von Nyiri, der Bass
Fritz Angermann, der Bariton

Der Name des zweiten Tenors der Anfangsbesetzung ist bisher leider nicht bekannt.

Zeno Coste, der erste Tenor

Paul von Nyiri stammte wie Kardos aus Ungarn und hatte bereits als Bass auf Opernbühnen in Prag und Budapest gestanden. Zeno Coste, ein 25jähriger Rumäne aus dem Banat, hatte bereits einige Platten als Solo-Sänger oder mit der Gesangsgruppe „Die Parker“ aufgenommen. Auch in drei Filmen hatte er schon gesungen. Bariton Fritz Angermann war in der Nähe von Leipzig geboren.

Der zweite Tenor

Im Juni 1932 finden die Dreharbeiten zum ersten Film mit Beteiligung der Kardosch-Sänger statt. In „Ja treu ist die Soldatenliebe“ begleiten sie die Schauspieler Fritz Schulz und Ursula Grabley bei dem Lied „Du bist mein bester Kamerad“. Allerdings ist in dieser Szene von der später bekannten Besetzung nur Paul von Nyiri zu hören und zu sehen. Möglicherweise hatten sich er und Kardos in der beträchtlichen ungarischen Emigrantenszene in Berlin kennengelernt. Am 3. August 1932 feierte der Film, der auch unter dem Namen „Achtung, die Husaren kommen“ bekannt wurde, im Titaniapalast und im Primuspalast in Berlin Premiere.

Als nächster stieß Fritz Angermann dazu: auf einem Werbefoto aus der Frühphase der Gruppe sieht man Kardos, Angermann und Nyiri mit zwei unbekannten Tenören, von denen einer auch in der kurzen Filmszene mit Fritz Schulz und Ursula Grabley zu erkennen ist. Dieser Sänger wurde recht schnell durch Zeno Coste als ersten Tenor ersetzt, während der zweite Tenor bis zu Schurickes Einstieg im Herbst 1933 zur Gruppe gehörte.

Fünf Tage nach der Filmpremiere, am 8. August, nahm die Gruppe mit dem Orchester Hans Schindler ihre erste Schallplatte auf: das Schlagerpotpourri „Einfach fabelhaft!“ In den nächsten Monaten folgten weitere Aufnahmen mit den Orchestern von Hans Schindler und Adalbert Lutter, zum Beispiel:

„Bei dir weiß man nie“ (Schindler), „Du du dudl du du“ (Lutter), „Was fang ich an mit meiner Sehnsucht“ (Lutter), „Kleine Frau, was nun?“ (Schindler, mit Gesang von Eric Helgar und den Kardosch-Sängern), „Margarete“ (Lutter) und „Wir kurbeln an“, ein weiteres Schlagerpotpourri mit dem Orchester Hans Schindler, bei dem die Kardoschs mit den beiden beliebten Refrainsängern Erwin Hartung und Eric Helgar im Studio stehen.

Am 31. August feierte mit „Moderne Mitgift“ der zweite Spielfilm Premiere, an dem die Kardosch-Sänger beteiligt waren, im November kam „Grün ist die Heide“ in die Kinos.

Im Oktober 1932 nahmen sie ihre lebhafte Version des Heymann-Gilbert Schlagers „Irgendwo auf der Welt“ aus dem Film „Ein blonder Traum“ auf , die den Vergleich mit der Version der Comedian Harmonists durchaus nicht zu scheuen braucht. Der Schlager wurde schon im Juli 1932 vor den Comedian Harmonists auch von den Five Songs aufgenommen. Die Version der Kardosch-Sänger unterscheidet sich ganz grundlegend von der der Comedian Harmonists. Der Beweis, dass sie keineswegs eine bloße Kopie der Konkurrenten waren, sondern vielmehr ihren ganz eigenen Stil verfolgten, war damit schon früh erbracht. Die einfallsreichen Arrangements und die Klavierbegleitungen von István Kardos, in Verbindung mit den erstklassigen Stimmen seiner Sänger, verliehen den Kardosch-Stücken ihre ganz besondere, eigene Qualität mit hohem Wiedererkennungswert. Am selben Tag wie „Irgendwo auf der Welt“ entstand eine mitreißende Aufnahme bei der die Kardosch-Sänger eine amerikanische Jazz-Sängerin namens Louise Gordan begleiten: „Dir möcht ich mich gerne anvertrau’n.“ Beiden Titeln hört man den Spaß und die Spielfreude dieser Aufnahmesitzung förmlich an.

Die Sing-Akademie in Berlin: hier fanden die Plattenaufnahmen des jungen Labels Telefunken statt. Heute befindet sich in dem Gebäude das Maxim-Gorki-Theater (vgl. Die Kardosch-Sänger in Berlin)
Werbung im Vorwärts, November 1932. Die Kardosch-Sänger sind auch an der späteren Verfilmung des Stücks mit Max Hansen, Magda Schneider und Adele Sandrock beteiligt. Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

Ab dem 23. November 1932 steht das Quartett für die Eduard-Künneke-Operette „Glückliche Reise“ unter der musikalischen Leitung von Hans Schindler zusammen mit den Stars Lizzi Waldmüller, Walter Jankuhn und Ernst Verebes auf der Bühne des Kurfürstendamm-Theaters. Leo Peukert führt Regie, am Piano sitzt Hans Bund. „Die Kardosch-Sänger haben eine wirkungsvolle Nummer“ schreibt die Vossische Zeitung am 24.11.1932.

Auf dieser Seite gibt es einige Szenenfotos von Lizzi Waldmüller und Walter Jankuhn: Glückliche Reise/32. Operettenlegende Walter Jankuhn.

Ein Szenenfoto aus dem 1. Akt
Das Theater am Kurfürstendamm. Hier begann die Karriere der Kardosch-Sänger.

Paul von Nyiris damalige Verlobte und zukünftige Ehefrau, Anna Jeanette Weiss, arbeitete zu der Zeit als Tänzerin in der Balletttruppe von Ursula Renate Hirth, die wiederum eine enge Mitarbeiterin von Eduard Künneke, dem Komponisten der „Glücklichen Reise“, war. Möglicherweise kamen die Kardosch-Sänger durch diese Verbindung zu ihrem Engagement für die Operette?

Nach über 130 Vorstellungen verschwindet „Glückliche Reise“ Anfang April 1933 vom Spielplan des Kurfürstendammtheaters, denn beide Librettisten, Max Bertuch und Kurt Schwabach, waren Juden. Bertuch wurde im März 1943 im KZ Majdanek ermordet, Schwabach emigrierte über einige Umwege nach Palästina, kehrte jedoch 1949 nach Deutschland zurück. Er arbeitete weiterhin als Librettist, litt jedoch nach dem Krieg an Depressionen und beging 1966 Selbstmord.

Auch eine am Württembergischen Landestheater – wie an vielen anderen Theatern – noch im Dezember 1932 geplante Aufführung der Operette findet mit „Rücksicht auf die Zeitverhältnisse“ vorerst nicht statt. Später schafft es die Operette jedoch wieder auf die Spielpläne und wird sogar, wieder mit Beteiligung der Kardosch-Sänger, verfilmt.

Für eine Aufnahmesitzung am 24. Oktober 1932 werden 180 RM pro Titel vereinbart – leider lässt sich bisher nicht nachvollziehen, welche Titel (und ob überhaupt) – an diesem Tag aufgenommen wurde. Einen Tag nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, am 31. Januar 1933, unterschreiben die Musiker einen Exklusiv-Vertrag mit der Deutschen Grammophon: bis Mai 1933 sollen sie „mindestens 8 Soloaufnahmen à RM 250“ sowie mindestens acht Refrainaufnahmen (für die es je 75 RM gibt) aufnehmen. Dazu sollen noch einige Potpourris à 100 RM kommen. Es ist der Gruppe gestattet, Refrainaufnahmen – nicht aber Soloaufnahmen – auch für andere Firmen aufzunehmen, sie müssen die Titel jedoch zunächst der Deutschen Grammophon anbieten.

István Kardos fungierte als Geschäftsführer für die Gruppe: er erledigte die Korrespondenz, kümmerte sich um Verträge und Tourneeplanung und besorgte natürlich alle Arrangements. 28% der Einkünfte fielen ihm zu, während die vier Sänger jeweils 18% bekamen.

Geschäftsadresse der Kardosch-Sänger in den Jahren 1932 und 1933 war die Uhlandstrasse 49, die damalige Privatadresse des Ehepaars Kardos, später eine Pension Kranzler in der Joachimsthalerstraße 9. Allerdings gab es dort zwar ein Café Kranzler aber keine Pension mit diesem Namen. Es existierte jedoch eine Pension von Eberswald, die vermutlich mit Pension Kranzler gemeint sein dürfte.

Die nachstehende Postkarte zeigt die Joachimsthaler Straße 9 Mitte der 1930er Jahre. Die Firma Jacobowitz hörte 1936 auf zu bestehen, da der Firmeninhaber Jude war,  das Café Kranzler – das zweite in Berlin nach der Filiale Unter den Linden – wurde 1932 eröffnet, somit lässt sich die Entstehungszeit des Fotos ziemlich genau auf den Zeitraum festlegen, in dem die Kardosch-Sänger in Berlin aktiv waren.

Die Joachimsthaler Straße 9 um 1934
Auf Tour 1932 oder ’33: Paul von Nyiri, Fritz Angermann, István Kardos, Zeno Coste und der unbekannte zweite Tenor

1933 sind die Kardosch-Sänger an weiteren Filmen beteiligt: „Tausend für eine Nacht“, „Keinen Tag ohne dich“, „Roman einer Nacht“ und „Glückliche Reise“. Leider sind die meisten dieser Filme verschollen oder, im günstigsten Fall, extrem schwer zu finden. In „Roman einer Nacht“ sieht man die einzige überlieferte Filmaufnahme der Kardosch-Sänger: sie singen auf einem Ball die Titel „Roman einer Nacht“ und „Ein kleines bisschen Liebe“, begleitet vom Orchester Lewis Ruth (das mittlerweile wieder „eingedeutscht“ als „Kapelle Ludwig Rüth“ auftritt). Zwischen Zeno Coste und Fritz Angermann sieht man den bisher namenlosen ursprünglichen zweiten Tenor der Gruppe.

In „Roman einer Nacht“: Coste, der namenlose zweite Tenor, Angermann und Nyiri

Die Dreharbeiten zu „Roman einer Nacht“ fanden am 16. Juni 1933 in München statt und die Gage betrug 400 RM. Der Vertrag mit der Atalanta-Film Gesellschaft vom 30. Mai 1933 enthält als besondere Vereinbarung die Klausel: „In der Reklame werden wir genannt“. Leider ist das im Illustrierten Filmkurier (Heft 655) nicht der Fall.

Zur Uraufführung des Films stehen die Kardosch-Sänger am 22. August 1933 im Berliner Capitol auf der Bühne:

Das ganze Jahr 1933 hindurch stehen sie weiterhin für Refrainaufnahmen mit bekannten Orchestern und zahlreiche Soloaufnahmen im Aufnahmestudio. Es entstehen zum Beispiel ihre Version von „Stormy Weather“ oder Dvořáks „Humoreske“ – zwei weitere Titel, bei denen sich der direkte Vergleich zu den Versionen der Comedian Harmonists aufdrängt. Besonders die „Humoreske“ ist ein Glanzstück der Kardosch-Sänger:

https://www.youtube.com/watch?v=oedJQXpDKbk

Am 9. September treten sie bei einem der damals beliebten bunten Abende mit dem Frankfurter Rundfunkorchester auf, der im Radio übertragen wird.

Vom 16. bis 30. September stehen die Kardosch-Sänger erneut für die Operette „Glückliche Reise“ auf der Bühne, die es nun doch wieder auf die Spielpläne geschafft hat – diesmal im Varieté „Plaza“. Bei der Premiere dirigiert diesmal der Komponist Eduard Künneke persönlich. Aus einer dieser Aufführungen stammt dieses Foto aus dem Nachlass von Zeno Coste. Bei dem Schauspieler, der neben den Kardosch-Sängern an der Bar sitzt, handelt es sich um Franz Heigl.

Kurz zuvor hatte der erst 20jährige Rudi Schuricke den bisher namenlosen zweiten Tenor ersetzt. Über die Umstände seines Einstiegs erzählte Schuricke später selbst, István Kardos habe ihn in einer Radiosendung des Senders Königsberg mit seinem Gesangsquartett „Schmidts Harmonisten“ gehört, zum Vorsingen nach Berlin eingeladen, ihm dann Gesangsunterricht gegeben und ihn in der Folge in seine Gruppe aufgenommen.

In jedem Fall, und ohne seinem unbekannten Vorgänger zu nahe treten zu wollen, war sein Einstieg eine Bereicherung für die Kardosch-Sänger, nicht nur wegen der stimmlichen Qualität seines hohen Tenors sondern auch wegen seiner Fähigkeit, Instrumente zu imitieren.

Zwischen Angermann und Nyiri: die beiden „langen Kerls“, Schuricke und Coste.

Auf „Du bist die Frau für mich“ mit dem Columbia-Tanz-Orchester kann man Schuricke zum ersten Mal klar heraushören. Die Aufnahme entstand vermutlich im August 1933. In den nächsten Monaten entstehen unter anderen die Aufnahmen „Ade zur Guten Nacht“ mit István Kardos als Dirigent des begleitenden Orchesters, „Die Sonja vom Ural“ und das bezaubernde „Schmetterlinge im Regen“.

Neben Deutschland waren die Kardosch-Sänger auch in den Niederlanden und Dänemark auf Tourneen und im Radio zu hören, so geben sie am 22. November 1933 ein Konzert im Odd Fellow Palais Kopenhagen, das ein begeistertes Presseecho findet. In einem Interview mit einer dänischen Zeitung anlässlich ihres Konzerts wird „Professor Kardosch“ gefragt: “Singt Ihr Quartett besser als die Comedian Harmonists?“ worauf er antwortet:

„Diese Frage wird mir überall gestellt, wo wir noch nicht waren; aber darf ich sie trotzdem umgehen, indem ich antworte: Wir singen anders! Meine vier ‚Jungs‘ haben vor allem weitaus größere und bessere Stimmen als die Mitglieder der Comedian Harmonists, die zwar auch hervorragende Musiker sind, aber keine Sänger von nennenswertem Format. Darüber hinaus geht unser Repertoire weit über das der ‚Comedians‘ hinaus. Wir singen rein klassische Stücke, wie z. B. Dvořáks ‚Humoreske‘, nur in einer modernen tonalen Bearbeitung. Wir singen Volkslieder, wir singen Wiener Walzer und wir singen topmoderne Schlager, die wir versuchen, rhythmisch und dynamisch in eine jazzsymphonische Form zu bringen.“

Er geht auch auf die Auswirkungen des „neuen Regimes“ auf die Musik und das Repertoire seiner Gruppe ein:

„Für die letztgenannte Art von Liedern gibt es übrigens in Deutschland derzeit keinen Markt. Das neue Regime hat überall zu einer Rückkehr zu weniger raffinierten, direkteren Formen der Musik geführt, und deshalb haben wir in letzter Zeit besonders viel Wert auf unsere Volksliedbearbeitungen gelegt.“

Und er verspricht:

„Beim morgigen Konzert werden wir ein sehr umfangreiches und abwechslungsreiches Programm singen, und wenn wir herausgefunden haben, was das Kopenhagener Publikum am liebsten hören möchte, werden wir unsere Zugaben speziell auf diesen Geschmack abstimmen.“

Auf die Frage „Singt das Quartett nur, oder spielt es auch Komödie auf der Bühne?“ antwortet er:

„Wir machen es genauso, wie es zu dem Lied passt, das wir singen. Wir können so leise und akademisch sein wie ein Streichquartett, wenn es erforderlich ist, und wir können so um unser Leben spielen, dass das ganze Haus tobt, wenn der Charakter des Liedes uns auffordert, ‚loszulegen‘. Wir können gar nicht anders! Bedenken Sie, dass wir zwei Drittel der zwei Jahre unseres Bestehens auf Varieté- oder Theaterbühnen verbracht haben, und nur das letzte Drittel in Konzertsälen.“

Und er beendet das Interview mit den Worten:

„Aber jetzt brauchen wir eine Pause. Wir haben gestern Abend sieben Stunden im Auto verbracht, um pünktlich anzukommen, also haben wir uns eine erholsame Nacht redlich verdient!“

Bei ihrer Ankunft in der dänischen Hauptstadt reagieren die Sänger etwas erstaunt, als ihnen auf ihre Anfrage, ob das Konzert ausverkauft sei, mitgeteilt wird, dass es noch Karten gebe. Trotz der durchaus begeisterten Reaktionen auf das Kopenhagener Konzert blieb die Popularität der Kardosch-Sänger weitestgehend auf das Deutsche Reich beschränkt. Anders als die Comedian Harmonists sangen sie mit einer Ausnahme auf ihren Schallplatten ausschließlich in deutscher Sprache, zudem mag ihre Anpassung an die musikalischen Erfordernisse des „neuen Regimes“ einem möglichen Erfolg im Ausland ebenfalls im Weg gestanden haben – wobei ihre Plattenveröffentlichungen in ausländischen Besprechungen durchaus positiv beurteilt werden.

Auf der Bühne in Kopenhagen am 22. November 1933

Im Winter 1933 haben sie ein Engagement am Wintergarten in Berlin:

Eine Vorstellung im Wintergarten in den dreißiger Jahren

Mit fast 3000 Sitzplätzen war der Wintergarten eines der größten und modernsten Theater Europas. Eine besondere Attraktion stellte die Decke dar, die durch unzählige Glühbirnen die Illusion eines Sternenhimmels vermittelte.

Anschließend werden sie von Willy Reichert für seine Künstlertournee engagiert. Seit 1932 tourte der Humorist Reichert, ab 1933 künstlerischer Leiter am Friedrichsbau in Stuttgart, regelmäßig mit einem Unterhaltungsprogramm durch Deutschland, für das er Künstler aus verschiedenen Sparten anwarb, so zum Beispiel den Pianisten Hubert Giesen, den Tenor Herbert Ernst Groh, die Tänzerin Lydia Wieser, die Pianistin Aleida Montijn, oder eben auch die Kardosch-Sänger. Auch Oscar Heiler, der langjährige Sketch-Partner von Willy Reichert, war Anfang der dreißiger Jahre schon mit von der Partie. Als Veranstalter fungierte das Konzertbüro Oscar Angerer in Stuttgart. Die Reichert-Truppe war bis 1941 in den ersten drei Monaten jedes Jahres unterwegs, Anfang 1934 mit vielen Terminen in Süddeutschland.

Ungeheure Begeisterung“ oder, wie Willy sagt: „Männliche Sphärenmusik“

Freiburger Zeitung, 5. Januar 1934, Universitätsbibliothek Freiburg i. Br.
Werbung in der „Badischen Presse“ am 29.12.1933.

Mittelbadischer Kurier, 4. April 1934.

Der Badische Beobachter schreibt am 6. Januar 1934 über ihren Auftritt in Karlsruhe:

„Die Kardosch-Sänger hat ihr Weg über London, Brüssel und Berliner Wintergarten nach Karlsruhe geführt. Ein modernes Gesangsquartett mit humorvollen fein abgestimmten Darbietungen. Sie haben etwas von den Donkosaken und den Comedian Harmonists an sich in ihrer stimmlichen Vielseitigkeit. Das summt und singt, die menschliche Stimme wird zum Musikinstrument, scheinbar mühelos fügt sich alles zu vollendeter Harmonie.“

Ausgerechnet Der Führer, das Organ der badischen NSDAP, schreibt am 6. Januar über denselben Auftritt begeistert:

„Sehr distinguiert und elegant traten die ausgezeichnet singenden Kardosch-Sänger auf, es ist eine Freude, ihnen zuzuhören, das Schubertsche Ständchen war ein wirklicher musikalischer Genuß, originell auch die russische Imitation ‚Die Sonja vom Ural‘.“

Auch die Freiburger Zeitung reagiert am 8. Januar enthusiastisch auf ihren Auftritt und nennt sie ein „virtuos geschultes Quartett“:

„Vor ausverkauftem Hause betrat am Freitag Willy Reichert die Bühne, um schwäbischen Humor wärmend leuchten zu lassen […] Zwischen seine Vorträge schieben sich Darbietungen verschiedener anderer Gäste, durchweg begabter, ja ungewöhnlich hochstehender Sänger, eines Klavierkünstlers, einer Tänzerin […] Die Kardosch-Sänger unter Leitung von Professor Kardosch, ein virtuos geschultes Quartett, nähern sich […] den ehemals von ganz Deutschland begrüßten Leipziger Sängern, d. h. den besten, den vollkommensten dieser reisenden Künstler“

Über den Auftritt mit Willy Reichert am 26. Januar 1934 im Saalbau Friedrichshafen schreibt das „Seeblatt“:

„Dann aber kam der Haupterfolg des Abends: die Kardosch-Sänger, ein modernes Gesangsquartett mit Klavierbegleitung. Mit ihren humorvollen, künstlerisch fein abgestimmten Darbietungen, wobei sie den anfänglich ungewohnt klingenden Gesang mit munteren Gesten begleiteten und Instrumente imitierten, versetzen sie das Publikum in ungeheure Begeisterung, die nach jedem Auftreten noch mächtiger anschwoll und sich fast nicht mehr legen wollte.“

Besonders begeistert reagiert das Calwer Tagblatt am 17.Mai:

„Das ausgewählt gute Beiprogramın des Abends bestritten der bekannte Pianist Artur Hagen – Stuttgart und der junge Violinvirtuose Dr. Fleischhauer sowie die international bekannten Kardosch-Sänger. Die musikalischen Darbietungen — es kamen u. a, Berlioz, Strauß, Schubert und Mozart zu Gehör — fanden stärksten Beifall. Die Kardosch-Sänger hatten einen ganz großen Erfolg und mußten sich zu zahlreichen Zugaben bereitfinden. Aus Mozarts ‚Wiegenlied‘ und Schuberts ‚Ständchen‘ holten sie mit virtuoser Raffinesse (Willy sagt: männliche Sphärenmusik!) den letzten Schimmer an Klangfarben heraus, indessen waren ihre ‚Leineweber‘ uns sympathischer.“

Aus der Reklame für eine Reichert Tournee

Der folgende Ausschnitt aus der Reichert-Biografie von Horst Jaedicke, Er wollte alles außer Schwäbisch, bietet einen interessanten Einblick in den Ablauf einer solchen Tournee:

„Für seine jährlichen Städtetourneen hatte Reichert ein ganz ungewöhnliches Konzept entwickelt, das als ‚Besinnung und Heiterkeit‘ seinen Charakter erkennen lässt […] Da waren zum Beispiel die Kardosch-Sänger, allgemein als Nachfolger der Comedian Harmonists angesehen, denen bekanntlich die Nazis den Garaus gemacht hatten. Ein Musikprofessor aus Ungarn hatte unter seinem Namen eine Künstlertruppe zusammengestellt, bei denen der kraftvolle Bass eines Paul von Nyiri die tiefen Töne und ein Bilderbuchtenor, stets mit einem Monokel im Auge, die hohen Töne beisteuerte. Der junge Mann hieß Rudi Schuricke (der sich später die Deutschen mit seinen ‚Capri-Fischern‘ vor die Füße legte). Dieses Männerquartett brachte neben Beschwingtem viel Schwermütiges ein, nach dem das folgende Pointenfeuerwerk besonders prächtig funkelte. Agent Oskar Angerer hatte das Planen und Durchführen von Künstlertourneen in den Fingerspitzen…“

Und weiter heißt es:

„Frühbucher bekamen, wie man wusste, die besten Veranstaltungsorte, allerdings zu saftigen Preisen. Spätkommer zahlten weit weniger, aber entsprechend waren meist auch die Häuser. Genau dazwischen galt es, die optimale Lösung zu finden. Leider taten die Austragungsorte den Künstlern nicht den Gefallen, schön nebeneinander zu liegen. Die Reichert-Tourneen bewegten sich in wildem Zickzackkurs durch Deutschland. […] Und das nicht nur auf bequemen Autobahnen, sondern auf Reichsstraßen, die zwar Erster Ordnung waren, sich aber ihrer Frostaufbrüche wegen, oft als Straßen erster Unordnung zeigten. Bei der Ankunft am Spielort wurden umgehend Bühne und Garderoben inspiziert…“

(aus: Horst Jaedicke: Willy Reichert. Er wollte alles, außer Schwäbisch. Eine Biografie, Hohenheim, 2010)

Fritz Angermann und Paul von Nyiri mit Willy Reichert. Vielen Dank für das Foto an Julia Reichert!

Hubert Giesen erzählt in seinen Memoiren zu den Reichert-Tourneen:

„Eine andere Sache waren Konzerttourneen, die nach 1933 in Mode kamen. Sie drückten aus, was die neuen Herren sich von der Musik versprachen. Sie sollte dem schaffenden Volk nach des Tages Müh‘ und Last Vergnügen und Entspannung bringen, damit es am nächsten Tag wieder fleißig schaffen konnte. (Heute würde man sagen, daß ‚die Musik in den Dienst des Establishment (sic) gezwungen wurde‘.) Um dieses Ziel zu erreichen, versuchte man den Zuschauern möglichst viel auf einmal zu bieten […] (man) erdachte eine Art Musik-Varieté, wobei man den Besuchern versprach, daß sie ‚Prominente‘ zu sehen bekommen würden. […] Die Vorstellungen wurden immer gut besucht, sie kamen offenbar einem Massenbedürfnis nach Unterhaltung entgegen, das damals weder vom Theater noch von den großen Orchestern, weder vom Kino noch vom Rundfunk befriedigt wurde. […] Genau genommen ist das Fernsehen, das heute die Massen mit seinen Shows und Durbridge-Filmen jeden Abend beschäftigt, nichts weiter als ein permanenter ‚bunter Abend‘ mit Prominenten. […] Man mag die Nase rümpfen über das Niveau, doch ich sage ganz offen, daß es mir oft viel Vergnügen bereitet hat. […] Ich glaube, wir Musiker sollten bei allem Stolz auf unsere Kunst und auf unser Wissen um die Feinheiten der großen Musik nicht vergessen, daß auch Mozart und Haydn ihre ‚Divertimenti‘ nicht für die Götter, sondern zum Vergnügen der Leute im Saal gespielt haben. Wir zogen durchs Ruhrgebiet und durch Württemberg, durch Franken und Baden. […] Es war beinahe wie im Zirkus, und nach den unzähligen Tourneen mit großen Künstlern, die oft nur an sich selbst dachten und, wie der Berliner sagt, ‚vor Kraft nicht loofen konnten‘, war dies geradezu eine Entspannung. Zumal man Gelegenheit fand, seine Kollegen genau kennenzulernen.“

(Aus: Hubert Giesen: Am Flügel. Meine Lebenserinnerungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 1972.)

In Zeno Costes Nachlass fanden sich einige Widmungen von Mitgliedern der Reichert-Truppe an den Kollegen, die das von Giesen geschilderte kollegial-freundschaftliche Verhältnis der Künstler untereinander belegen.

Das Repertoire der Kardosch-Sänger umfasste deutsche Tanz- und Tonfilmschlager, Volkslieder und Parodien, aber auch deutsche Versionen internationaler Titel wie zum Beispiel „Waitin‘ at the gate for Katy“ (Käti) und das ein- oder andere Schlagerpotpourri. Eine ihrer interessantesten Aufnahmen ist zweifellos „Wer hat Angst vor dem bösen Wolf“ mit dem Orchester Hans Bund, eine fulminante „Coverversion“ von „Who’s afraid of the big bad wolf“ aus dem Walt-Disney-Film „Die drei kleinen Schweinchen“.

Diese beiden Programme aus Kopenhagen und Iserlohn bieten einen Einblick in ihr Bühnenprogramm:

Den Comedian Harmonists war es seit März 1934 unmöglich in Deutschland aufzutreten, und auch aus dem Rundfunk und den Schallplattengeschäften waren sie im Zuge des infamen Vernichtungsfeldzugs der Nazis gegen jede Art jüdischer Beteiligung am Kulturleben stillschweigend „verschwunden“. Die Kardosch-Sänger sollten sie in gewisser Weise ersetzen – man hielt sie für „rassisch unbedenklich“ da die jüdische Herkunft ihres Gründers und Leiters bisher unbekannt war.

Anfang 1934, während die Kardosch-Sänger mit Willy Reichert auf Tour sind, wird das letzte für den 8. März geplante Konzert der Comedian Harmonists in der Berliner Philharmonie ohne Angabe von Gründen abgesagt – am 25.März geben sie in Hannover ihr letztes Konzert in Deutschland. In der Vossischen Zeitung erscheint am 6. März ein Aufruf des „Reichspropagandaministers“, der die Landesregierungen daran erinnert, dass noch immer Nichtarier auf deutschen Bühnen auftreten. Es folgt eine Ermahnung zu strengen Kontrollen der für ein öffentliches Auftreten notwendigen Fachschaftsausweise, und der Minister schließt mit dem an Heuchelei fast nicht zu übertreffenden Satz: „Es darf nicht dahin kommen, dass sich das Publikum gegen das Auftreten von Elementen, von denen es bereits befreit zu sein glaubte, mit Selbsthilfe zur Wehr setzt.“

Pflichtgemäß fragt somit auch ein Vertrag mit der Konzertdirektion Erich Knoblauch über drei Konzerte in Dresden im Dezember 1934 ob alle Herren im Besitz „des Ausweises einer Fachschaft“ seien.

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Die Gage für jeden der drei geplanten Auftritte in Dresden betrug 40% von der Bruttoeinnahme (nach Abzug der Steuern), garantiert 300 RM pro Abend.

Weiterhin fragt Direktor Knoblauch an, ober er „für fünf Herren 3 Tage zu Künstlerpreisen“ im Europahof buchen solle und ob der „Herr Professor“ den Flügel betreffend an ein bestimmtes Fabrikat gebunden sei?

Über das erste Dresdner Konzert schreiben die Dresdner Neuesten Nachrichten am 15. Dezember 1934:

Die Kardosch-Sänger

Die Genealogie ist klar und leicht zu übersehen, sie kommen von den Comedian Harmonists her, die ihrerseits wieder auf die Revellers zurückgehen. Eine so feine Abstammung sichert ihnen das Interesse des Publikums, aber auch einen strengen Maßstab.

Nun, die Kardosch-Sänger können ihn vertragen. So sehr sie singen wie jene, so singen sie doch gut und manches auf eigene Weise.

Die Comedian Harmonists muss man zum Vergleich heranziehen, weil sie sehr populär waren und weil es für diese Art von Männerchor mit Klavier noch keine rechte Klassifizierung gibt. Die Kardosch-Sänger werden mit der wachsenden Popularität, die ihnen auf Grund ihres Könnens sicher ist, das überflüssig und jene vergessen machen. Sie werden in der populären Musik bald einen festen Begriff bilden.

Sie sind glänzend aufeinander eingesungen, über die gewagtesten harmonischen Rückungen gleiten sie sicher hinweg wie Fische über Stromschnellen, sie sind rhythmisch so gelöst und gelockert, daß sie kleine und große Akrobatenstücke des freien Vortrags mit Eleganz ausführen können, und haben auch ein Stück Komödiantentum in sich, mit dem sie das, was sie singen, auch gestisch verdeutlichen. Am Flügel sitzt Stephan Kardosch, der ihnen als musikalischer Bearbeiter Wort und Weise in den Mund legt und mit zartem Anschlag illustriert.

Kleine Einwendungen ergeben sich bloß bei den Volksliedern, denen sie alle Naivität nehmen, deren Bearbeitungen einem Cocktail gleichen, dem Wasser beigemischt wird. Das verdirbt die köstliche Reinheit des frischen Wassers und schadet andererseits dem Cocktail. Mit den Schlagern, den Tänzen und Parodien kann man restlos einverstanden sein. Es ist ein Vergnügen dieser kultiviertesten Kabarettkunst zu lauschen.

Die Kardosch-Sänger zeigten sich im Künstlerhaus, das vom Beifall erschüttert wurde. Sie sind heute und morgen noch einmal dort zu treffen. K.L.“

Eine weitere überwiegend begeisterte Kritik desselben Konzerts erscheint in der Sächsischen Volkszeitung am 15.Dezember 1934. Auch hier natürlich die pflichtgemäß-zeittypische Kritik an der Darbietung der Volks- und klassischen Lieder, wobei auffallend ist, dass der Ton wesentlich weniger scharfzüngig ist als in ähnlichen Kritiken der Comedian Harmonists. Die Kardosch-Sänger werden als vermeintlich „rein-arisches“ Ensemble wohlwollend-freundlich beurteilt, wo die Comedian Harmonists in ähnlichen Fällen erbarmungslos verrissen wurden.

Gastspiel der Kardosch-Sänger

Im Künstlerhaus ist für drei Tage ein lustiges Quintett eingekehrt, die Kardosch-Sänger, denen bei ihrem erstmaligen Auftreten am Donnerstag ein stürmischer Erfolg beschieden war. Vier Sänger, einer am Flügel singen in bunter Reihe Lieder und Schlager, sogar (leider) Kunstlieder von Schubert und Mozart und unterhalten die Hörerschaft aufs beste. Nach Art der Comedian Harmonists unterstützen sie ihr von erheblicher Musikalität (trotz allen Unsinns!) zeugendes Singen durch lebhafte Mimik – allen voran der urkomische Bassist – und durch Imitation von Instrumenten, so dass man manchmal Saxophone und andere Jazzinstrumente zu hören glaubt. Unverwüstlich in ihrer frohen Laune, dazu im Stimmlichen Famoses leistend, lassen sie die Zeit im Fluge vergehen. Denn sie sind wirklich witzig und vermeiden aus gutem Geschmack heraus, albern zu werden. Man kann also jedem, der die Frau Musica einmal von ihrer heitersten Seite kennenlernen will, nur raten, zu den Kardosch-Sängern zu gehen. Nur Lieder wie das „Ständchen“ von Schubert oder gar Mozarts „Wiegenlied“ sind, auf diese Manier gesungen schwer ertragbar. Jedem das Seine, und die Kardosch-Sänger haben bei ihrem unerschöpflichen Schlager-Repertoire es nicht nötig, solche Lieder – zu trivialisieren. Von den Volksliedern wirkten einige famos, andere gehörten jedoch auch nicht in diesen übermütigen Rahmen. Lachen – Beifall – Zugaben. Dr. W.

Die Gruppe war häufig an Bunten Abenden beteiligt, die oft im Radio übertragen wurden, wie zum Beispiel im Dezember 1934 bei Radio Hilversum, oder am 20. Januar 1935 beim Reichssender Königsberg. Für einen solchen Abend erhielten sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere eine Gage von 450 RM. Über ihren Auftritt bei einem solchen Unterhaltungsabend im November 1934 schreibt das Karlsruher Tagblatt am 25. November 1934:

Das beste boten indessen unzweifelhaft die Kardosch-Sänger, vier Leutchen (sic) mit verblüffender Beherrschung des Technischen und mit ausgeprägt eigener Haltung. Sogar gütig parodierte Volkslieder fanden durch diese Künstler von Rang, denen Prof. Stephan Kardosch ein köstlich mitkokettierender Begleiter ist, lebhaftesten Widerhall.“

Der Badische Beobachter schreibt über dasselbe Konzert:

„Unstreitig den Vogel schossen die fünf Kardosch-Sänger ab, die, ihre Stärke im Volksliedhaften beweisend, moderne Schlager unter genialster Ausnützung aller Stimmungsmöglichkeiten servierten. Stürmischer Beifall zwang die fünf ‚Kanonen‘ zu mehreren Dreingaben.“

Auch die Badische Presse schlägt am 24.11. in dieselbe Kerbe:

„Wie diese Sänger unter der Leitung von Professor Stefan Kardosch die alten Volkslieder wie auch neuere Kompositionen zu musikalischen Hochgenüssen zu gestalten wissen, ist immer wieder bewundernswert. Es ist eine ganz besondere Art von Kunstgesang, bei dem trotz aller Neugestaltung die bodenständige Melodie in zu Herzen gehender Weise beherrschend bleibt. Natürlich mußten auch die Kardosch-Sänger mit mehreren Zulagen für den rasenden Beifall danken.“

Werbung für die „September-Neuheiten des Lindström-Konzerns“, 1934

Wenige Tage nach den Dresdner Konzerten waren die Kardosch-Sänger am 20. Dezember 1934 wieder in Berlin um an einem fast vier-stündigen „Bunten Tanzabend“ für den Rundfunk teilzunehmen, der unter dem Motto “NUR NOCH VIER TAGE . . .!“ stand. Beteiligt waren Marita Gründgens, Lulu Basler, Anneliese Impekoven, Margarete Slezak, Carl Heinz Carell, Erich Kestin, Ludwig Schmidseder, die Kardosch-Sänger, das Orchester Gebrüder Walters und das Funkorchester. Am Silvesterabend 1934 treten sie im Goldsaal der Dortmunder Westfalenhalle auf.

Am 7. Januar 1935 unterzeichnen die Kardosch-Sänger einen Alleinvertretungsvertrag mit dem Internationalen Konzert-Tournee-Büro Oscar Angerer in Stuttgart (dem Veranstalter der Reichert-Tourneen), der interessante Einblicke in die geschäftliche und künstlerische Situation der Gruppe bietet. Laut István Kardos wusste Angerer von seiner jüdischen Herkunft, schien aber trotzdem an eine Zukunft der Gruppe zu glauben. Der Vertrag erstreckte sich auf „ganz Europa“, zunächst für die Dauer eines Jahres mit „Prolongationsrecht auf ein weiteres Jahr unter gleichen Bedingungen“.

Angerer garantierte Kardos (als kaufmännischem und künstlerischem Leiter des „modernen Gesangsquintetts Kardosch-Sänger“) eine mindestens 6 Monate dauernde Tournee für das Jahr 1935 mit einer garantierten Abendgage von 120 RM. Außerdem mindestens 40 abendfüllende Konzerte zum Honorar von 250 RM. Die freibleibende Zeit des Jahres sollte mit abendfüllenden Konzerten oder Tournee-Gastspielen aufgefüllt werden. Fahrt- und Reisespesen (Eisenbahn – Schnellzug 3. Klasse -, Auto oder Omnibus) trug das Konzertbüro Angerer. Nachmittagsvorstellungen wurden mit der halben Tagesgage vergütet, zwei volle Konzerte pro Tag sollten aber im Interesse der „künstlerischen Leistungsfähigkeit“ vermieden werden und nur an höchstens 10% der Termine stattfinden.

Unter anderem heißt es: „Es ist Herrn Kardosch bekannt, dass beinahe täglich Herr Kardosch und seine Herren sich auf Reisen befinden. Sämtliche Herren reisen bezüglich ihrer Person und ihres Gepäcks auf eigenes Risiko.“

Das Programm der Konzerte sollte in Absprache mit Oscar Angerer gestaltet werden, ebenso waren Kündigungen und Umbesetzungen mit ihm abzusprechen. Kardos garantierte im Falle einer Kündigung eines seiner Herren, die „Position innerhalb des Quartetts gleichwertig zu ersetzen“.

Und auch hier: „Herr Kardosch verpflichtet sich ausdrücklich dafür zu sorgen, dass Herr Kardosch und seine Herren bei der betreffenden Fachschaft der Reichsmusikkammer organisiert und im Besitz des notwendigen Ausweises sind.“

Die Kündigungsfrist zwischen „Herrn Kardosch und einem der Herren Sänger, oder umgekehrt“ betrug ein halbes Jahr.

Die „Herren Sänger“ erklären sich am 7. Januar mit diesen Bedingungen einverstanden:

Anfang 1935 sind sie mit Barnabas von Géczy und seinem Orchester, und erneut mit Willy Reichert unterwegs:

Badische Presse, 4.2.1935.
Badische Presse, 9.3.1935.

Die folgende kleine Anekdote stammt aus dem Werbemagazin „Der Ton“ der Lindström AG, und zwar aus der Ausgabe Januar/Februar 1935. István Kardos war ja nicht nur Musiker, sondern schrieb auch Artikel für ungarische Musikmagazine, und der Stil dieser amüsanten Geschichte ist ganz ähnlich dem einiger Artikel, die er später in Ungarn veröffentlichte. Deshalb ist es durchaus möglich, dass wir hier zumindedst in Teilen tatsächlich die „Schreibstimme“ von István Kardos lesen und nicht die eines Lindström-Texters – und warum hätte Lindström auch nicht ein weiteres seiner Talente benutzen sollen?

Der Ton, Ausgabe Januar/Februar 1935. Mit herzlichem Dank an Josef Westner.

Innerhalb einer Woche gastierten die Kardosch-Sänger im Februar 1935 gleich zweimal mit Willy Reichert in Karlsruhe: eine Woche vor dem öffentlichen Gastspiel am 10.2. gab es am 3. Februar einen Auftritt bei einem Kameradschaftsabend für die Beamten, Angestellten und Arbeiter der Stadt Karlsruhe, ein Anlass bei dem István Kardos mit einigen Bauchschmerzen am Flügel gesessen haben dürfte, denn „Der große Festhallesaal war durch Tannengrün und die Symbole des neuen Reiches […] festlich geschmückt“ und Vertreter von NSDAP, SS und der Organisation Kraft durch Freude waren reichlich zugegen. Vor den Auftritten von Reichert und seinen Künstlern gab es Reden, Sieg-Heil-Rufe, sowie Deutschland- und Horst-Wessel-Lied. Man mag sich kaum vorstellen, mit welchen Gefühlen er, der „getarnte Jude“, die Bühne betrat.

Angesichts ihres strammen Tourneeplans wundert man sich fast, wie die Kardosch-Sänger noch die Zeit fanden, ins Studio zu gehen, um Platten aufzunehmen, und tatsächlich nahmen sie im Jahr 1935 im Vergleich zu 1934 weniger Platten auf. Kardos zeigt sich in einer Eidesstattlichen Versicherung vom 3. Juli 1956 für das Entschädigungsamt in Berlin überzeugt:

„…. angesichts des hohen Niveaus, der Popularität und dem Anerkennen, die die KARDOSCH-SÄNGER genossen haben, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass ich noch viele Jahre hindurch mit mindestens solchem materiellen Erfolg in Deutschland hätte arbeiten können“.

Dem sollte, wie bekannt, nicht so sein. Im Laufe des Jahres 1935 entstanden zum Beispiel noch Titel wie „Der Kleine Postillon“, „Kleine Rosmarie“ und „Marietta“ (großartige Beispiele dafür, wie Kardos es verstand, seine Sänger auch solistisch glänzen zu lassen), das freche „Wenn der Bobby und die Lisa“ und zwei Aufnahmen mit Peter Kreuder, darunter ihr einziger englisch gesungener Titel „Lookie lookie lookie, here comes Cookie“ und eine eingedeutschte Version des amerikanischen Filmhits „Lullaby of Broadway“.

Die Reaktionen der Presse und des Publikums sind nach wie vor begeistert:

„Am Schluß des Programms stand das Auftreten der bekannten Kardosch-Sänger unter persönlicher Leitung von Professor Stephan Kardosch, ein modernes Gesangsquartett mit vier auserlesenen Stimmen und einer fabelhaften Beherrschung aller technischen Feinheiten moderner Gesangskunst.“ (Der Murgtäler, zum Konzert in Rastatt am 14.7.1935)

„Die Kardosch-Sänger vom Berliner Rundfunk fanden mit ihren vornehmen Gesangsdarbietungen hohe Anerkennung.“ (Karlsruher Tagblatt, zum Konzert am 10.8.1935 in Gernsbach)

Am 7. September 1935 sind sie wieder einmal aus dem Saalbau in Frankfurt mit den Reichert-Künstlern im Reichssender Frankfurt zu hören – zur besten Sendezeit am Samstagabend, ebenso wie am 2. Oktober, diesmal aber am Nachmittag, zusammen mit Erwin Hartung und anderen. Am 26. Oktober treten sie bei einem Bunten Abend in der Dortmunder Westfalenhalle auf: „Einen Sondererfolg sicherten sich die fünf Kardosch-Sänger mit schlichten, aber überaus wirkungsvolle Volksliedern. Auch diese Künstler, bekannt von Rundfunk und Schallplatte, fanden stürmischen Beifall, so daß mehrere Zugaben erfolgen mußten.“ (Dortmunder Zeitung, 28.10.1935)

Am Sonntag, den 3. November 1935 haben die Kardosch-Sänger ihren letzten öffentlichen Auftritt in Breslau im Rahmen eines Bunten Abends, über den sich in Zeno Costes Nachlass zwei Zeitungsauschnitte fanden:

Schlesische Zeitung, 5.11. 1935
Breslsauer Neueste Nachrichten, 5.11.1935

Als Ausländer gelang es Kardos lange, seine jüdische Herkunft zu verbergen, mit ziemlicher Sicherheit sogar vor seinen Sängerkollegen, aber im Laufe der Jahre 1934 und besonders 1935 mit dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze, wuchs der Druck auf ihn, einen sogenannten Ariernachweis vorzulegen. Konzertagenturen und Veranstalter verlangten nun einen Mitgliedsausweis der Reichsmusikkammer. Am 4. Oktober meldete sich das Ehepaar Kardos rückwirkend zum 1. Oktober von seiner Wohnung in der Nürnberger Straße 3 in die Pension von Eberswald in der Joachimsthaler Straße 9 um. Von dort aus flohen die beiden heimlich nach Budapest.

In einer eidestattlichen Erklärung an die Entschädigungsbehörde in Berlin vom 3. Juli 1956 fasst Kardos die Ereignisse kurz und bündig zusammen:

„Weil ich diesen (arischen Nachweis, Anm. d.V.) nicht produzieren konnte, andererseits aber das Bekanntwerden meiner Abstammung, nachdem ich ca. 3 Jahre lang auf der Bühne, auf dem Konzertpodium, im Film, im Rundfunk und sogar in Partei-Veranstaltungen öffentlich tätig war, für mich gefährlich, ja sogar lebensgefährlich gewesen wäre, war ich also gezwungen, das Reich fluchtartig zu verlassen; selbst meine Sängerpartner erfuhren es erst später, als ich ihnen aus Ungarn schrieb.“

Näheres über die Umstände seiner Flucht aus Berlin gibt es hier zu lesen.

Kardos scheint sich bereits am 5. November 1935 in Budapest befunden zu haben, wenn man diesem Zeitungsbericht Glauben schenken darf, der an diesem Tag in 8 Órai Ujság erscheint:

400 Konzerte in zwei Jahren. Nur wenige wissen, dass der Gründer und Leiter des weltberühmten Jazzquartetts Kardosch-Sänger, bekannt aus dem Rundfunk und unzähligen Aufnahmen, der bekannte ungarische Komponist und Dirigent István Kardos ist, der Budapest vor vielen Jahren verlassen hat. Dieses Quartett, das von westeuropäischen Kritikern als das kultivierteste und klangschönste Vokalensemble bezeichnet wird, hat in der westlichen Welt einen wahren Triumphzug angetreten, in zwei Jahren gaben sie fast 400 Konzerte. Kardos hält sich derzeit in Pest auf, von wo aus er weitere Tourneen organisiert.“

Sollte Kardos tatsächlich schon am 5. November in Budapest gewesen sein, würde das bedeuten, dass er bei den beiden letzten Plattenaufnahmen der Kardosch-Sänger am 29.11. nicht mehr dabei war. Als letzte Aufnahmen der Gruppe entstanden „Sie trägt ein kleines Jäckchen in blau“ und „Ich schwöre nur auf Liese“.

Die übrigen Kardosch-Sänger traf seine Flucht unerwartet. Das frisch vermählte Ehepaar Nyiri ging 1938 ebenfalls zurück nach Budapest. Coste blieb zunächst noch in Berlin, sang zeitweise beim Meistersextett mit, nahm einige Platten als Refrainsänger auf, und versuchte vergeblich, ein Engagement an der Opéra Comique in Paris zu bekommen, bevor schließlich auch ihn die Umstände zwangen, in seine Heimat zurückzukehren. Angermann und Schuricke blieben aktiv in der Unterhaltungsszene der NS-Zeit, wobei Angermann sich eher dem Oper-, Operetten- und Liedgesang zuwandte, während Schuricke sich ganz auf die leichte Unterhaltungsmusik konzentrierte und einer der produktivsten deutschen Schallplattenkünstler der nächsten beiden Jahrzehnte wurde. Kardos und Nyiri dürften sich nach dem Krieg gelegentlich in Budapest getroffen haben, und mindestens bei einem von Nyiris häufigen Radioauftritten wurde er von Kardos – der ab Ende der 40er Jahre für den Rundfunk arbeitete – am Klavier begleitet.

Die Kardosch-Sänger im November 1933 in Dänemark

Quellen:

  • Fotos der Kardosch-Sänger und Zeitungsauschnitte mit freundlicher Genehmigung der Familie Coste. Foto von Willy Reichert mit Fritz Angermann und Paul von Nyiri von Julia Reichert.
  • Giesen, Hubert: Am Flügel. Meine Lebenserinnerungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 1972.
  • Jaedicke, Horst: Willy Reichert. Er wollte alles, außer Schwäbisch. Eine Biografie, Hohenheim, 2010.
  • Schneidereit, Otto: Eduard Künneke – der Komponist aus Dingsda. Henschelverlag Berlin 1978
  • Schneidereit, Wolfgang: Discographie der Gesangsinterpreten der leichten Muse von 1925 bis 1945 im deutschsprachigen Raum: Eine Discographie mit biographischen Angaben in 3 Bänden.
  • Westner. Josef: Ein deutsch-ungarisches Pionier-Ensemble. Die Abels.
  • Westner, Josef: Was hältst Du von Veronika? Von den Abels zu den Kardosch-Sängern, Der Schalltrichter, Ausgabe 33, September 2008.
  • Westner, Josef: Vokal Total. Gesangsgruppen bei der Ufa, erschienen in Fox auf 78, Ausgabe 29 und 31.
  • Berliner Branchenverzeichnis 1935: https://digital.zlb.de/viewer/image/34115495_1935/3488/.
  • Entschädigungsakte István Kardos im Archiv der Entschädigungsbehörde des Landes Berlin, Aktenzeichen 306.359, darin:
    • Vertrag mit der Deutschen Grammophon-Aktiengesellschaft vom 31. Januar 1933.
    • Schreiben der Konzertdirektion Erich Knoblauch vom 30. November 1934.
    • Schreiben der Telefunkenplatte GmbH vom 22. Oktober 1932.
    • Schreiben des Reichssenders Königsberg vom 21. Dezember 1934.
    • Vertrag mit dem Internationalen Konzert-Tournee-Büro Oscar Angerer, Stuttgart, vom 10. Dezember 1934.
    • Schreiben der Atalanta-Film Gesellschaft vom 30. Mai 1933.
    • Polizeilicher Meldeschein vom 4. Oktober 1935.
    • Eidesstattliche Versicherungen von István Kardos vom 3. Juli 1956 und 26. März 1963.
    • Eidesstattliche Versicherung von Hajnal Pataki-Lengyel vom 29. März 1963.
  • „Glückliche Reise“ im Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestellsignatur   E 18 VIII Bü 416.